24.12.2025

«Im Spätdienst auf dem Notfall bleibt meist keine Zeit fürs Abendessen»

Wenn der Tag zu Ende geht, beginnt auf dem Notfall häufig eine besonders arbeitsreiche Phase. Notfallpflegeexpertinnen Bea Bucher und Charlotte Züllig berichten aus dem Spätdienst. Von unerwarteten Situationen, Weihnachten auf der Station und was ihren Beruf ausmacht.


Charlotte Züllig und Bea Bucher

Warum Spätdienst für sie ein Geschenk ist

Spätdienst klingt nach langem Abend. Für Bea und Charlotte bedeutet er zuerst einmal: Der Tag gehört ihnen.

Charlotte bringt es auf den Punkt: «Ich habe sehr gerne Spätdienst, weil es mir den Tag extrem verlängert. Ich wohne in Meilen und habe dadurch einen recht kurzen Arbeitsweg und kann an solchen Tagen sehr viel machen bis 2, halb 3 und muss erst dann aus dem Haus, um den Spätdienst anzutreten. Das schätze ich sehr.»

Auch Bea mag genau das: Zeit am Morgen, Zeit fürs Leben. Und gleichzeitig sagt sie klar: «Bei uns sind Spätdienste insgesamt sehr viel strenger als Frühdienste.»

Wenn der Abend kommt, kommt die Welle

Warum strenger? Weil der Abend auf dem Notfall oft die Zeit ist, in der vieles zusammenläuft. Menschen kommen nach der Arbeit, nach dem Sport, nach dem Grümpelturnier, wo sie sich den Fuss verstaucht haben. Oder weil etwas den ganzen Tag schon weh tat und jetzt nicht mehr auszuhalten ist.

Charlotte erklärt, warum das so häufig abends passiert: «Schmerzen in der Nacht sind einfach unangenehmer als am Tag, weil man sich dann stärker darauf fokussiert.»

Und manchmal ist es sogar erstaunlich vorhersehbar. Nach Schneesonntagen zum Beispiel. Erst merkt man beim Heimweg nur ein Ziehen, zu Hause wird es stärker, und plötzlich sitzen viele mit «doch nicht so kleinen» Verletzungen im Wartebereich.

Kein Abendessen, aber dafür Schokolade

Im Spätdienst gibt es eine Frage, die fast schon zum Running Gag gehört: Wann essen wir eigentlich zu Abend?

Bea sagt: «Das Besondere am Spätdienst ist auch, dass wir oft keine Zeit für das Abendessen haben.»

Statt gemütlicher Pause läuft es oft auf schnelle Zwischenlösungen hinaus. Und die haben auf dem Notfall ihren eigenen Ruf.

Bea lacht: «Also der Notfall ist das kulinarische Hub vom Spital. Wir haben alles immer voller Süssigkeiten.»

Pausen macht man dort, wo man sofort wieder einsatzbereit ist. «Weil, wenn dann etwas ist, müssen wir gleich springen», so Charlotte.

Wenn jede Minute zählt

Bei potenziell lebensbedrohlichen Situationen wird ein Schockraum angekündigt. Die Sanität meldet sich an, es wird intern alarmiert, und das Team stellt sich bereit. Wenn die Patientin oder der Patient dann kommt, gibt es zuerst eine kurze, strukturierte Übergabe. Was ist passiert? Wie ist der Zustand? Was wurde bereits gemacht? Dann startet die Versorgung sofort.

Für Bea ist das Entscheidende, dass in diesem Raum niemand allein ist. «Wenn ein Patient für den Schockraum kommt, dann heisst das, dass jemand die ganze Zeit mit diesem Patient in diesem Raum ist und ihm nicht von der Seite weicht, bis die Situation geklärt ist. Es kann sein, dass dies eine Viertelstunde geht, es kann sein, dass es 3h ist.»

Während im Schockraum alles auf diesen einen Menschen fokussiert ist, läuft der Rest der Notfallstation weiter. Genau da zeigt sich Teamarbeit im Alltag. Aufgaben werden verteilt, andere Patientinnen und Patienten werden übernommen, damit der Betrieb nicht stehen bleibt.

Geschichten, die nur der Notfall schreibt

Der Dienst auf dem Notfall bringt Situationen, die man nicht planen kann. Und Geschichten, die man später kaum jemandem erzählt, weil sie zu absurd klingen würden.

Bea sagt: «Ich könnte dir 3 Stunden Geschichten erzählen vom Notfall… einmal hatten wir eine Patientin die mit der Sanität zugewiesen wurde, weil sie Glas verschluckt hatte.

Wir brachten sie zuerst einmal in eine Koje, um die Situation in Ruhe abzuklären. Als wir es krachen hörten, sind wir sofort wieder rein und sahen, wie sie die Leuchtstoffröhre unserer Lampe wie einen Getreidestängel verspies.»

Abends kommen auch Jugendliche, die Alkohol unterschätzen. Nicht selten endet es damit, dass Eltern völlig überfordert auf dem Notfall stehen, weil sie ihr Kind so noch nie erlebt haben und weil die Mischung aus Tempo, Gruppendynamik und Getränken stärker war als gedacht.

Und Charlotte bringt einen Satz, der genau zeigt, wie breit das Spektrum ist:

«Ich habe auch schon Männer erlebt, die auf der Notfallstation wie ein Hund an die Wand gepinkelt haben.»

Zwischen all dem gibt es aber auch die Momente, die nicht kurios sind, sondern traurig. Fälle, die zeigen, wie einsam Menschen sein können. Und wie schnell ein Sturz zu Hause zur absoluten Ausnahmesituation wird, wenn niemand merkt, dass etwas passiert ist.

Heiligabend auf dem Notfall ist festlich und gleichzeitig ernst

An Heiligabend blitzt zwischen Triage und Telefonaten manchmal etwas Festliches auf: Christbaumohrringe, Nikolausmützen, ein kurzer gemeinsamer Moment, wenn es die Lage erlaubt.

Und trotzdem merken beide: An Heiligabend kommen oft eher die dringlicheren Fälle. Leichtere Beschwerden werden eher verdrängt, damit das Fest nicht kippt. Und manchmal passiert auch das Gegenteil: Etwa wenn Angehörige an Heiligabend wünschen, dass jemand im Spital bleibt, obwohl medizinisch eine Entlassung möglich wäre.

Das Schöne am Beruf

Was beide antreibt: Wirksamkeit. In kurzer Zeit etwas merklich Gutes tun.

«Es gibt viele schöne Geschichten, weil die meisten Menschen, die auf den Notfall kommen, ihn schmerzfreier, gesünder oder beruhigter wieder verlassen», erzählt Charlotte.

Und manchmal bleibt genau so ein Moment hängen.

Der Moment, der bleibt

Charlotte: «Ich habe die Fähigkeit, mit dem Ausziehen meiner Arbeitskleidung meine Erinnerung an die Arbeit auszulöschen. Ich hänge den Dingen, die passiert sind, nicht nach.»

Bei Bea ist es anders. Sie könnte lange erzählen. Aber eine Geschichte ist ihr besonders präsent. Bea erzählt von einem Patienten mit massivem Herzinfarkt. Sie spürte seine Angst, diese alles überlagernde Angst. Und sie gab ihm inmitten von Schmerz und Panik einen Anker. Nicht medizinisch. Menschlich. Sie sagte ihm, er solle durchhalten, dass es gleich weitergeht, dass Hilfe da ist. «Sie können nicht sterben, Sie sind jünger als ich. Sie halten jetzt durch.» Später kam er zur Weiterbehandlung zurück und sagte ihr, dass genau diese Worte ihm geholfen hätten. Bea sagt, sie bekomme heute noch Gänsehaut, wenn sie daran denkt.

Nach Mitternacht. Kurz Luft holen

Wenn der Dienst endet und es der Abend hergibt, sitzen sie manchmal noch kurz zusammen draussen. Ein paar Minuten, bevor man nach Hause geht. Ein Moment Team. Stille Nacht.


Zu den Personen

Bea Bucher arbeitet seit über 40 Jahren in der Pflege und ist seit 2008 im Spital Männedorf. Sie ist Dipl. Expertin NDS Notfallpflege.

Charlotte Züllig ist seit 2017 im Spital Männedorf und arbeitet bereits 33 Jahre in der Pflege. Auch sie ist Notfallpflegeexpertin.