4.3.2022

Sag, wie hältst Du’s mit Deinem Körper? Welche Geschichten das Übergewicht erzählt.

Dr. med. Michael Niebler unterstützt und begleitet übergewichtige Menschen als Psychiater und Psychoanalytiker. In seinem Beitrag erzählt er von den Geschichten, die das Übergewicht schreiben.


Unlängst musste ich während einer Therapiestunde mit einer jungen Frau an diese Zeilen aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper denken:

«Denn die einen sind im Dunkeln
und die anderen sind im Licht
und man siehet nur die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.»

Eine Patientin erzählte mir in dieser Stunde zum ersten Mal, wie sie mit einem älteren Bruder aufgewachsen war, der unter einer psychischen Störung litt. Die ohnehin mit sich selbst beschäftigten Eltern waren davon zusätzlich überfordert. So habe sich Frau L immer im Schatten gefühlt, und sie erzählt ausführlich, wie sich die Eltern um ihren Bruder kümmerten. Ich unterbrach sie mit dem Hinweis, dass sie jetzt auch in der Stunde wenig von sich, sondern viel von ihrem Bruder erzähle. Ich hätte das Gefühl, sie im Schatten, in den sie sich stelle, gar nicht sehen zu können. Das löste bei Frau L viel aus. Sie weinte und begann zu merken, wie ihr eigenes Leben für sie selbst gar keine Rolle gespielt hatte. Eine Woche später kam es mir vor, als hätte sie sich verändert. Die vom Übergewicht schwer gezeichnete Frau wirkte viel attraktiver, sie erzählte mit nun fester Stimme von all den Einsichten, die ihr dank der letzten Stunde aufgegangen seien. Bisher hörte ich ihr Sprechen eher als ein Tasten im Unbekannten, als wäre sie sich nicht sicher, ob es sich gehört, so von sich zu erzählen. Nun fiel ihr auf, dass es Situationen gab, in denen sie gar nicht anders konnte, als zu reden und zu reden. Auch bei der Arbeit hatte sie mehr Aufgaben übernommen als gefordert gewesen wären und sah sich auch dort im Schattendasein ihrer Bedürfnisse, bis ihr manchmal der Kragen platzte, was zum Streit mit dem Chef führte.

Nun begannen wir zu erahnen, welche Geschichte ihr Übergewicht, das mit der Trennung der Eltern ihren Anfang genommen hatte, erzählte. Ihr Körper und dessen Symptome wiesen uns bei dieser Geschichtsforschung den Weg. Denn es war, als würde ihr Körper mit seinen Mitteln versuchen, die Lebensereignisse seiner Bewohnerin zu erzählen. Wir begannen dann diese Erzählungen in eine gemeinsame Sprache zu übersetzen. Damit einhergehend veränderte sich auch das Verhältnis, das Frau L. zu ihrem Körper einnimmt. Hoffentlich wird ihr „Leib“ damit mehr für sie als eine Hülle.

Es ist immer wieder ein eindrucksvolles Ereignis, wenn sich in einer Therapie solche Zusammenhänge auftun. Gleichzeitig gelingt es nicht immer so rasch wie bei Frau L, denn der Weg dorthin ist so unterschiedlich wie es die Menschen sind.

Ich habe dieses Beispiel gewählt, um einen wichtigen Aspekt aus meiner psychotherapeutischen Arbeit mit übergewichtigen Menschen zu veranschaulichen: Das Übergewicht eines Menschen erzählt eine Geschichte. Diese Geschichte ist aber nicht einfach zu entziffern Es ist, als wäre sie in Hieroglyphen aufgeschrieben worden. Weder Therapeut noch der Mensch, dessen Geschichte erzählt wird, können diese Botschaft einfach so lesen. Diese Rätsel kommen zustande, weil es vielen Menschen mit Übergewicht schwerfällt, Interesse am eigenen Leben, der eigenen Körperlichkeit und dessen Geschichte aufzubringen. Nun, was meint man damit?

Dr. med. Michael Niebler, Psychiater & Psychoanalytiker

«Es ist immer wieder ein eindrucksvolles Ereignis, wenn sich in einer Therapie solche Zusammenhänge auftun.»

Stellt man sich das Leben wie ein langes Diner mit einem grossen Buffet vor, so kann man aus verschiedenen Blickwinkeln an die Sache herangehen. Für die einen wäre es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, wie viel es kostet, welche Kalorien dort wie verpackt sind, wie viel man bekommt im Vergleich mit anderen, ob man sich erlauben darf nachzufassen, dass man wohl schnell sein muss, sonst ist alles Gute weg usw. Und am Ende zählt nur, was auf dem Teller gelandet ist.

Die Andere würden sich dafür interessieren: Wer hat das gekocht? Worauf habe ich gerade Appetit? Möchte ich etwas probieren, das ich noch nicht kenne? Wie sind die Speisen angerichtet? Welche Geschichten stecken hinter den Rezepten? Wo im Raum ist das Buffet angerichtet? Mit wem möchte ich denn gemeinsam essen? Habe ich denn Hunger?

Der eine Blick geht eher auf das Ergebnis, der andere stellt den Weg in den Vordergrund. Wenn die Menschen zu uns Ärzten kommen, ist vom Buffet ihres Lebens oft schon viel aufgegessen. Übergewichtige haben zudem Mühe, sich daran zu erinnern, was, wann und wie gegessen wurde. Zu sehr ging es darum, einfach möglichst gut satt zu werden. Gleichzeitig sind diese Menschen immer auch damit beschäftigt, nicht zu viel zu essen und tun es trotzdem. Dieser innere Widerspruch hat damit zu tun, dass viele Menschen vor lauter Kalorien- und Schrittezählen verpassen, auf ihr inneres Empfinden zu hören. Dort geht es aber bei weitem nicht so klar und gesittet zu, wie auf der Smartphone-App. Empfindungen können unterschiedliche Quelle haben: Was meint nun diese Leere in der Bauchgegend noch gleich? Hunger? Durst? Einsamkeit? Was mache ich mit dem Kloss im Hals? Weine ich, rede ich darüber oder spüle ich es mit einem Cola runter?

Eine Zuordnung der Empfindungen zu ihren Ursprüngen fällt vielen Menschen schwer. Es braucht Training, sich selbst gut genug zu verstehen, damit man nach dem streben kann, was man braucht. Und um sich selbst wiederum zu verstehen, müssen wir uns für die eigene Lebensgeschichte interessieren, denn die Person, die wir momentan sind, sind wir ja auf irgendeinem Weg geworden. Wenn man versteht, welchen Weg man gehen musste und wie man diesen versucht hat, zu bewältigen, kann man auch das Übergewicht in seiner Sinnhaftigkeit besser verstehen. Die meisten Menschen sind gewohnt, dieses Problem aktiv anzupacken und wie mit einer Checkliste zu arbeiten: 1. Gut Frühstücken 2. Meditation über das eigene Dasein 3. Arbeiten 4. Mittagessen 5. Yoga 6. Erholung, alles wiederholen. Es ist recht anstrengend und vielleicht beengend, sich in ein solches Programm eingesperrt zu fühlen. Wem kann man es da verdenken, sich mit einem Snack zu stärken oder zu trösten? Vielleicht möchte man mit dem Körperfett auch rebellieren gegen das Gefühl eingesperrt zu sein in einen Käfig aus Erwartungen.

Der Fokus auf das reine Ergebnis und dem aktiv-tätigen Erreichen desselben bringt uns dem Verständnis eines Sinns jedoch nicht näher. Etwas anderes ist es, sich in eine Passivität fallen zu lassen, die es möglich macht überhaupt wahrzunehmen, wohin es einen zieht, was einen anmacht oder abstösst. Dafür muss man sich in die Position des ziellosen Flaneurs begeben, der ohne Ziel durch die Gegend wandert, dahin, wo es einen gerade hinzieht. Einem Zuruf folgend, einen seltsamen Weg erkundend, der kleinen Gasse nach, die komisch riecht, in den Keller hinab, vor dem man Angst hat, einem Kribbeln im Bauch folgend oder einem Jucken an der Nasenspitze. Gerade die Angst kann ein guter Wegweiser sein. Das hat mit einem Missverständnis zu tun, das das Verzichten betrifft. Bei dem Versuch abzunehmen, setzen die meisten Menschen auf den Verzicht. Man verzichtet auf Süssigkeiten, Chips, Süssgetränke, aber man verzichtet nicht darauf, das immer Gleiche zu tun. Wie in einem Ritual wechseln sich die Phasen von Diät und Gewichtszunahme ab. Das ist zwar schlecht für die Gesundheit, aber immerhin kennt man es schon. Immer schaut man darauf, welches Ergebnis wohl dabei herauskommt, wenn ich dies oder das tue. Hier auf die Sicherheit zu verzichten, dass man genau weiss, wo man am Ende herauskommt, ist viel schwieriger. Man muss also auf den Trost des Rituals des immer Selben verzichten und riskieren, sich ordentlich zu verlaufen. Es gehört zu den Widersprüchen des Lebens, dass man auf dem Weg eines hingebungsvollen Verirrens auf einen Fremdenführer angewiesen ist. Solche Fremdenführer sind zum Beispiel Psychoanalytiker, wie ich es einer bin.

www.michaelniebler.ch